Über Vic

Der etwas andere Plausch mit Vic P. Victory

 

 

Wir waten über ein gluckerndes Bächlein. Noch eines. Eigentlich sind es Sintfluten, unter denen frisch verlegte Kopfsteinpflaster gefrieren. Vorbei an Einkaufscentern, Bäckereien und Erotikshops. Unsere Schuhe und Hosenbeine sind mit Regenwasser und Matsch vollgesogen, wir halten unsere Schirme fest in der Hand und haben Mühe, durch den Wolkenbruch und die Windböen irgendetwas zu sehen. Wir kennen das Lokal nicht, zu dem uns Vic für das Interview bestellt hat. Es soll neben dem Hauptbahnhof sein. Eine Schänke, die laut Vic schlecht besucht, dunkel, verraucht und somit gut für das Gespräch wäre. Vic mag keine Menschenansammlungen. Generell meidet er kommerzielle Einrichtungen.

Als wir nach über zwanzig Minuten vor dem Lokal stehen, schütteln mein Kollege und ich wortlos den Kopf. Beim Anblick des Türgriffes bereuen wir, keine Hygienetücher mitgenommen zu haben. Ein weinroter, schwerer und in die Jahre gekommener, stinkender, von Glimmstengeln durchsengter, ausgefranster Vorhang trennt die Eingangstür vom Lokalinneren. Fünf mit vollen Aschenbechern und klebrigen Bierdeckeln verzierte Tische. Ein kurzer Tresen mit vier Barhockern. Eine Alkoholleiche im hintersten Winkel, den Kopf auf dem Tisch. Nebelfäden abgestandenen Rauches, die sich um unsere Kleidung wickeln. Ein ausgefressener Hochflor-Teppich, in dem vermutlich tausende Arten von Ungeziefer gerade Thanksgiving feiern, weil Frischfleisch zur Tür hereingekommen ist. Eine lebendige Person, die uns aus einer Ecke heraus anstarrt. Aber nicht Vic, das hätte uns auch gewundert. Es ist der Wirt, der uns unfreundlich zunickt und dabei eine Zigarette mit der Zunge auf und ab wippen lässt. Wir fühlen uns auf Anhieb unwohl.

Nachdem wir uns für einen Tisch entschieden und uns auf der ausgerissenen Lederbank festgeklebt haben, warten wir. Zehn Minuten vergehen, mein Kollege starrt noch immer angewidert auf die durchsichtige Suppe, die der Wirt als Cappuccino bezeichnet, und ich bereue einmal mehr meine Manie, die Fingerspitzen ungeduldig auf den Tisch trommeln zu lassen. Jetzt muss ich mit Sicherheit sterben. An Läuserückfallfieber. Oder Typhus. Gerade als ich mich übergeben möchte, geht die Tür auf. Tropfend vom Regenwasser und mit über fünfzehn Minuten Verspätung, knallt Vic erst die Patchwork-Schiebermütze auf den Tisch, entledigt sich des nassen Mantels, setzt sich uns gegenüber, zieht an den Hosenträgern, als scheinbare Elastizitätsprobe, und glotzt uns verschmitzt an.
„Scheiß Wetter. Habt ihr mir schon einen Whisky bestellt?“
„Es ist kurz nach zehn Uhr morgens.“ 
Vic lächelt mich an, als wäre ich bemitleidenswert. „Und?“ 
Ich ignoriere es. Ich kenne dieses Spiel schon. Während mir mein Kollege die Zettel mit den Interviewfragen reicht, wirft Vic den rechten Fuß auf die Bank. 
Vic: „Ist das Vogelscheiße auf meinem Schuh?“ 
Ich gucke auf den dunkelbraunen Oxford und schüttle meinen Kopf. „Nein, das ist eine Essiggurke.“ Es bedarf keiner weiteren Erklärung. Vic liebt Essiggurken. Ich räuspere mich, werfe meinen Kopf wie ein Boxer vor dem Kampf nach links und rechts und frage: „Können wir anfangen?“ 
Vic gähnt, nestelt an einem Loch in der Bank und kontert: „Womit?“ 
Ich ignoriere es. Ich kenne das Spiel schon. Also beginne ich mit dem Interview: „Herzlichen Dank, dass du heute tatsächlich mal gekommen bist. Ist ja erst Versuch Nummer drei. Was war denn letzten Freitag schon wieder so dringend, dass du uns sitzen lassen musstest? Einmarsch der Marsmenschen? Meteoritenhagel? Übernahme der Weltherrschaft?“ 
Vic saugt meinen Unmut grinsend in sich auf und erwidert: „Du bekommst noch einen Herzinfarkt, wenn du dich immer gleich in alles so reinsteigerst. Lass mal überlegen … Keine Ahnung wo ich war. Vielleicht im Studio? Mir sind ein paar Songtexte eingefallen und ich wollte schnell was ausprobieren. Glaube ich zumindest.“ 
„Wenn du mit ausprobieren meinst, Gitarren gegen die Wand und Whisky über das Mischpult zu schleudern, dann kann ich dir versichern, dass du nicht letzten Freitag im Studio warst, sondern am Mittwoch. Denn rate mal, wer wegen Sachbeschädigung einen netten Anwaltsbrief erhalten hat. Und im Übrigen: Überlass die Musik mir. Du weißt ja nicht mal, wo man das Licht im Studio anmacht.“ 
„Du musst jetzt nicht gleich beleidigend werden.“
„Und du könntest dich endlich mal an unsere Termine halten.“ 
Vic verdreht die Augen und seufzt: „Bis jetzt ist es ja ganz amüsant. Aber du weißt, dass ich sowas hasse. Für was soll das gut sein?“ 
Ich merke, wie mir die Zornesröte ins Gesicht steigt, schließe die Augen und sage, so ruhig es mir möglich ist: „Ich erkläre dir das jetzt nicht nochmal! Interviews sind wichtig, wenn du …“ Vics siegesreich schmunzelnde Gesicht lässt mich stocken. Eine Oktave höher, als mir lieb ist, poltert es aus mir: „Kann es denn wirklich niemand schaffen, dich aus deiner infantilen Deckung hervorzulocken?“ 
Vic legt gespielt überlegend Daumen und Zeigefinger ans Kinn und antwortet: „Jimmy Fallon. Oder Ellen DeGeneres. Oder der Typ, der immer mit dem Auto rumfährt. Wie heißt der nochmal? Ach ja, James Corden.“ 
„Also niemand jemals.“ 
„Korrekt.“ 
„Dann bin ich ja gerührt, dass ich heute mit dir reden darf. Also, Vic. Viele Schriftsteller und Schriftstellerinnen nutzen frühere seelische Schmerzen, schlechte Erfahrungen in der Kindheit oder Jugend, Schicksalsschläge oder tiefe Abgründe, wie die Sucht nach Rauschgiften, aus der sie sich dann befreit haben, als Aufhänger für ihren Beginn, ihren Werdegang, warum sie schreiben. Warum schreibst du?“ 
Vic rümpft die Nase, schwenkt die Kaffeetasse, als wäre tatsächlich Whisky drin und gähnt dann die folgenden Worte aus: „Mein Vater war nicht Iwan der Schreckliche, meine Mutter keine abgebrühte Serienmörderin, meine Tante kein fieses Miststück, mein Großvater keiner, der jemanden um die Ecke gebracht hat und …“ 
Ich muss Vic unterbrechen. Schließlich sprach ich nicht von Massenmördern und Monstern. „Vic, ich wollte vielmehr wissen, ob du, wie andere deiner Kollegen auch, durch einen Verlust oder einen Schicksalsschlag zum Schreiben gekommen bist. Und ob du in deinen Büchern vielleicht auch einen Teil deiner Vergangenheit verarbeitest.“ 
„Genau aus diesem Grund gebe ich keine Interviews. Scheiße, meine Vergangenheit gehört alleine mir. Ich möchte sie weder breittreten, noch publizieren. Sonst wäre meine Vergangenheit ja wie eine getippte Gegenwart. Durch meinen Kopf rattern Ideen im Minutentakt. Die haben nichts mit meinem Leben zu tun. Außerdem zähle ich mich nicht zum klassischen Autorenkreis, ich bin vielmehr ein Wort-Junkie. Was raus muss, muss raus. Und irgendwann hat mal so ein Typ zu mir gesagt, dass ich meine Faselei doch veröffentlichen soll.“ 
Der „Typ“ war ich. Jetzt bin ich der Manager. Und bereue es mehrmals täglich. Bevor ich was erwidern kann, meint Vic weiter: „Schreiben ist für mich eine Befriedigung. Andere hüpfen zu fünft im Bett herum, fassen sich selbst an den …“ 
Da ich weiß, wie diese Aussage enden würde, greife ich ein: „Genug Information! Du bist und bleibst unbelehrbar.“ 
„Und du stellst die falschen Fragen.“ 
„Gibt es in deinen Augen überhaupt richtige Fragen? Lassen wir das. Du hast dich dazu entschieden, deine Romane über Amazon zu veröffentlichen. Warum?“ 
„Warum nicht?“ 
„Du weißt, dass das Interview wie vereinbart nachher auf deiner Website steht, oder? Und glaub mir eines: Ich werde jedes Wort verwenden.“ 
„Verstehe ... Auge um Auge. Hey, du solltest wissen, warum ich nicht interviewtauglich bin. Ich will die Leute nicht mit meiner Person erschrecken, sondern sie mit den Büchern unterhalten. Ich bin weder aufmerksamkeitsgeil, noch ein kommerztauglicher Zampano.“ 
„Als was siehst du dich dann? Als Eremit?“ 
„Sehr witzig. Ich habe eben gerne meine Ruhe. Alles, was ich brauche, ist ein Blatt Papier, eine gute Schallplatte und Whisky. Und damit meine ich keinen scheiß teuren, vierhundert Jahre alten Spirituosen-Greis, der beim Runterschlucken die Speiseröhre verätzt. Schmecken muss er. Der Hong Tong Whisky aus Thailand zum Beispiel. Leicht, lecker, bezahlbar und …“ 
„Vic!“ 
„Schon gut, schon gut. Als was ich mich sehe? Als jemanden, der für Fairness einsteht und Süßholzraspler verabscheut, die dann hinter dem Rücken die Gerüchteküche anheizen und gar nicht wissen, was sie damit anrichten. Als jemanden, dem es nicht in den Schädel geht, wie grausam manche Menschen sein können. Mach doch mal das Internet auf! Das ist voll von feigen Menschen, die ihren Frust im Schutze der Anonymität an anderen auslassen. Und du fragst dich, warum ich mich medial so aus der Affäre ziehe? Warum ich mein Privatleben so penibel schütze? Ja, ich bin auch auf Social Media Plattformen unterwegs. Aber ich lasse alle leben, verurteile niemanden, beteilige mich nicht an Hetzjagden und versuche schlichtweg, das, was mir wichtig ist, preiszugeben. Zufrieden?“ 
„Wow, beeindruckt trifft es wohl eher. So viele aneinandergereihte, beinahe Zynismus freie Sätze aus deinem Mund … Themenwechsel. Wie viel Geld gibst du pro Buch für Lektorat und sonstige Dienstleister wie Grafiker, Filmemacher und so weiter aus?“ 
„Das sind schon mehrere tausend Euro.“ 
„Lohnt sich das?“ 
„Das solltest du als mein Manager hoffen.“ 
Touché! 
„Wie viele Bücher hast du bereits fertiggeschrieben und was erwartet uns als Nächstes?“ 
„Scheiße, das weißt du doch alles! Okay, okay, sorry. Ein paar sind fertig und bereits online. Ein paar noch nicht ganz. Wenige zum Teil und keines meiner Projekte gar nicht.“ 
„Sag mal, macht dir das Spaß?“ 
„Bücher schreiben?“ 
„Mich mit deinen Antworten zur Weißglut treiben.“ 
„Das auch. Also gut. Nach der Trauzeugin folgt ein Krimi. Dann der zweite Band der Trauzeugin. Dann ein Liebesroman. Irgendwie so in der Reihenfolge. Die Manuskripte sind zum Teil schon fertig und werden gerade lektoriert. Sollte somit alles bald mal auf dem Markt sein.“ 
„Das heißt, 2020 gibst du Vollgas.“ 
„Muss ich. Steht in unserem Vertrag.“ 
Ich verdrehe die Augen, denn das stimmt so nicht. 
„Wie alt bist du eigentlich? Zwölf?“ 
„Du weißt, wie alt ich bin.“ 
„Verflucht, Vic! Dir ist schon klar, dass das Interview für deine Fans ist?“ 
„Krass, ich habe Fans? Na dann hört mal her! Ich bin jünger als der Mann mir gegenüber. Viel jünger. Um Jahrzehnte jünger. Ich glaube sogar, ihr alle da draußen seid jünger als …“ 
Was hat mich geritten, diese Frage zu stellen? 
„Vic! Herrgott, reiß dich zusammen! Also … Was hast du in Zukunft noch alles vor?“ 
„Na in dem Fall Fanartikel rausbringen.“ 
Ich seufze und flüstere, kaum hörbar: „Warum weichst du nur ständig meinen Fragen aus und tust mir das an?“ 
„Weil du die falschen Fragen stellst und ich dein Gesicht toll finde, wenn es rot wird. Dein linkes Auge zuckt übrigens. Das würde ich mir mal ansehen lassen.“ 
„Möchtest du uns möglicherweise irgendetwas sagen, das dich zumindest im Ansatz sympathisch wirken lässt?“ 
Vic lehnt sich vor, verschränkt die Hände auf dem Bakterienurlaubsort und sieht mir direkt in die Augen. Irgendwie gruselig, denn anstelle des kindlichen Grinsens, habe ich plötzlich ein erwachsenes Gesicht vor mir. Und tatsächlich werfen sich mir reife Worte um die Ohren: „Ich esse gerne, schlafe wenig und arbeite viel. Ich liebe Hüte, Sonnenbrillen, Hosenträger und Hemden, betrachte mich deswegen aber nicht als Dandy. Ich hasse schnelle Autos, finde alte Menschen fantastisch, verachte Klatsch und Tratsch, bin übertrieben neugierig, kann nicht lange ruhig sitzen und laufe oft mit stupiden Kleinigkeiten hirnschwanger. Ich hasse Klugscheißer, noch mehr verachte ich Lästermäuler und hab mich lange gewundert, warum es in der deutschen Sprache kein Wort für „nicht mehr durstig“ gibt. Gut, jetzt gibt es ja ein Kunstwort dafür: Sitt. Aber jetzt mal im Ernst, wer kennt das Wort? Meine Schwäche für Whisky habe ich von dir. Meine Schwäche für Zigarren von meinem Urgroßvater. Meine Liebe zur Musik von meinem Großvater. Ich koche gerne, reise gerne, mag aber weder lange Autofahrten, noch das Fliegen, noch Tintenfisch. Ich finde die Erfindung des Geschirrspülers nobelpreisverdächtig. Ebenso die des Fotoapparates. Ich hebe Schnecken vom Fahrradweg hoch und setze sie an den Wegrand in der Wiese ab. Ich dachte als Kind, meine Oma würde Oma heißen und war ganz erstaunt, dass sie einen Namen hat. Ich liebe den Geruch von Benzin, trinke zu viel Kaffee und hasse Termine. Ich zehre nach der Entdeckung der Welt und bin dankbar für das, was ich tun darf.“ 
Überrascht von Vics plötzlichem Anfall von Menschlichkeit, steht mir der Mund offen. Auch mein Kollege, der das Interview aufzeichnet, ist irritiert. „Ich bin sprachlos. Und genau an dem Punkt machen wir Schluss.“ 
„Soll ich nichts über meine Bücher erzählen?“ 
„Das steht alles auf deiner Website, im Menüpunkt nebenan.“ 
Touché!

 

VicPVictory