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The Lost Head - only available in German language

„Himmelherrgott! Die Blase eines Zwerghamsters, aber vier Stunden Pipi machen“, fluchte Hilde, richtete ihre Perücke gerade, stieg aus dem Auto aus und lehnte sich über die Leitplanke, um ihren Mann von da aus anzufeuern. Der üble Geruch heißen Betons flitzte in ihre Nase. Sie sah Edgar, wie er unweit der Stelle, an der er zuvor sein Geschäft verrichtet hatte, mit dem Rücken zu ihr stand. Seine Schultern bebten, seine rechte Hand flatterte beunruhigend hin und her, seine Knie zitterten. „Mein Gott! Jetzt bekommt der mir auch noch einen Herzinfarkt“, flüsterte Hilde verärgert, hievte sich ungeschickt über die Brüstung und stakste ungelenk auf ihren Mann zu. Ein unangenehmes Gefühl beschlich sie, da er auf ihre Rufe nicht reagierte. Gerade als sie ihn erreicht hatte und zur Rede stellen wollte, wandte er sich von ihr ab, stolperte nach vorne und übergab sich qualvoll.

 

„Edgar, bitte! So rede doch mit mir! Was ist denn los? Und was stinkt hier so bestialisch?“ Hilde umklammerte ihre Nase mit den Fingern, während Edgar sich den Mund abwischte und langsam wieder in die Senkrechte glitt.

„Meine Güte, Edgar, du bist ja leichenblass! Ist es wieder dein Magengeschwür?“ Als würde sie über glühende Kohlen hoppeln - sie hasste Gras und die Vorstellung tausender Krabbeltiere unter ihren teuren Designerschuhsohlen - machte sie zwei Schritte auf Edgar zu. Er regte sich nicht. Jede Faser seines Körpers weigerte sich, die Hand zu heben und dorthin zu deuten, wo der Grund seines labilen Zustandes lag. Tausende Gedanken schossen durch seinen Kopf, er fühlte sich schwer. Alt. Verletzbar. Das war zu viel für ihn und sein weiches Gemüt.

Seine Frau riss ihn aus seiner befangenen Welt der Starre, indem sie, frontal vor ihm stehend, in seine Brustwarzen zwickte. „Du machst mir Angst, Edgar! Sag doch gleich, wenn du keine Lust auf unser Wellnesswochenende hast! Dann fahr ich eben alleine. Aber so eine Show abzuziehen, ist nicht in Ordnung!“ Sie stemmte die Hände in ihre im Vergleich zum Rest des Körpers schmalen Hüften und starrte angewidert auf seinen Mundwinkel, an dem noch etwas Galle klebte.

„Da … da drüben! Der Gestank kommt von da drüben. Da liegt … Ich kann nicht …“ Jedes Wort folterte Edgars Kehle. Er deutete auf eine Stelle am Waldrand, die durch Gestrüpp, Äste und abgeworfenes Holzdickicht den Rest des dagegen eher ordentlich anmutenden, wenngleich auch kargen Naturstückes an der Schnellstraße optisch noch mehr ruinierte.

Sollte er ihr das wirklich antun? Ihr zeigen? Zumuten? Nein. Rasch zog er seine Hand zurück, atmete tief durch und versuchte, sich zu beruhigen. Er straffte die Schultern, blickte auf und sah seiner Frau, die ihm in diesem Moment absurderweise noch bezaubernder erschien als sonst, in ihre haselnussbraunen Augen. Ihre Augen! So hübsch, so lebensfroh, so angriffslustig. Ihr klarer Blick würde leer werden, wenn sie es sehen würde. Doch plötzlich rollte sein Herz über die Zunge. Wie immer, wenn er nervös war, stolperten Yoda-Wortfetzen aus ihm: „Da drüben … Leiche ist. Grauenhaft … Übel aussehen sie tut. Nicht anschauen. Zurück zum Auto und Polizei rufen wir müssen.“

„Ach, papperlapapp! Eine Leiche? Was bitte schön lässt du dir noch so alles einfallen, um nicht mit mir in den Urlaub zu müssen? Frechheit! Wehe dir, da liegen nicht wirklich irgendwo sterbliche Überreste rum! Eine Leiche. Pah! Dass ich nicht lache! Du kennst doch nicht mal den Unterschied zwischen oben und unten! Und da willst du eine Leiche erkennen können?“ Während Hilde ihre Worte mit einem Schwall Arroganz an Edgars Ohren schmetterte, drehte sie sich um und stapfte bereits zu der unaufgeräumten Stelle, auf die ihr Mann zuvor gedeutet hatte. „Pff … Dämlicher, alter Esel! Jetzt hat er auch schon Wahnvorstellungen! So ein …“

„Herzchen, ich kann dich hören! Bitte, komm zurück! Du solltest das nicht sehen“, flehte er, aber vergebens. Zu schwach und zu schockiert, um sie aufzuhalten, sah er ihr nach. Wie sie ihre satten, prallen Hüften schwang. Und ihre knackigen Waden! Verflucht, was war nur mit ihm los? Seine sanften Augen hafteten an ihrem Hintern.

„Du alter Quatschkopf! Eine Leiche, hahahahaha!“, lachte sie blasiert und trabte weiter in die entgegengesetzte Richtung, während Edgar entgeistert am Boden verwurzelt dastand. Es hatte keinen Zweck. Er wusste, dass sie ihren Willen so oder so durchsetzen würde. Sehr gute Ausrede. Ihr Wille. In Wahrheit MUSSTE sie die Leiche sehen, ansonsten würde sie ihn bis zum Tag seines Todes und darüber hinaus an seinem Grab mit dieser Geschichte malträtieren. Also ließ er sie ziehen. Seine geliebte Hilde.

Keine zehn Sekunden später hörte er einen zaudernden Klang, der aus ihrem Rachen bis zu ihm vordrang. Jetzt war es seine Frau, die versteinert stillstand. Obwohl es ihm widerstrebte, lief er zu ihr, nahm ihre kalte Hand und starrte mit ihr auf den Tod. Auf einen Körper, dem nicht nur mehrere Gliedmaßen fehlten. Ein Rumpf, angenagt von der Natur, angefressen von Tieren. Die Verwesung so weit fortgeschritten, dass nur noch die wenigen, noch vorhandenen Extremitäten vermuten ließen, dass der Körper mal einem Menschen gehört hatte. Da, wo früher ein Kopf war, klaffte ein rundes, offenes Loch. Tiere mussten sich daran gemacht haben, den Hals auszuhöhlen, die letzten Reste menschlichen Fleisches auszusaugen. Die Knochen strotzten durch das wenige graue, vermoderte Fleisch, das sich in kleinen, dürren Fetzen vom Skelett löste. Fetthaltiges Gewebe, das die Aasfresser für den Nachtisch übrig gelassen hatten. Trümmer eines Wesens, in dem früher eine Seele gesteckt war. Ein verfaulter Klumpen, an dem sich Insekten labten.

Wie eine kühle Hand legte sich der Schatten der Nadelbäume schützend über den Torso der Grausamkeit.

 

 

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